Der Teddybär im Friesennerz
Die erste Liebe vergisst man nie, sagt man. Wenn wir ehrlich sind, hat doch
auch jeder jemanden, der für immer unerreichbar scheint oder schlimmstenfalls den
ersten heftigen Liebeskummer verursacht hat. Der Schulschwarm, die süße
Nachbarin oder der coole Typ aus dem Jahrgang über uns.
Meine Jugendliebe aber ist meist in einen grauen Schleier gehüllt, etwas
ruppig und riecht leicht nach Fisch: HAMBURG.
In meiner Kindheit und Jugend waren die größten Städte, die ich erreichen konnte,
Erfurt, Jena und Coburg. Ein Tagesausflug dorthin war für mich ein echtes Highlight, mit
richtigen Großstädten konnte ich nichts anfangen. Ich kannte Berlin und München,
aber fühlte mich dort einfach nie so richtig wohl.
Bis in der zehnten Klasse eine Klassenfahrt nach Hamburg anstand. Ähnlich
wie bei der Partnersuche kommt irgendwann – meistens, wenn man es am
wenigsten erwartet - der eine Mensch, der einen alle schlechten Erfahrungen
vergessen und jegliche Prinzipien über den Haufen werfen lässt. Bei mir war es kein
Mensch, sondern in diesem Fall eine Stadt. Wir durchliefen das Standardprogramm für
Schulklassen und Touristen – ein Besuch im Dungeon mit anschließender Hafenrundfahrt und ein wenig Freizeit zum Bummeln. Mangelnder Orientierungssinn und fehlende
Smartphones in den frühen 2000ern hinderten uns allerdings daran, uns allzu weit
vom Treffpunkt zu entfernen, sodass meine Freundin und ich nur ein bisschen durch die Speicherstadt schlenderten. Diese paar Stunden in Hamburg reichten aber aus, dass mein Herz schneller schlug – Liebe auf den ersten Blick sozusagen.
Schon damals konnte ich mir nicht erklären, wo und warum mich dieses Gefühl überkam. Vielleicht war es die Seeluft oder das Geschrei der Möwen, möglicherweise lag es aber auch an den freundlichen und offenen Menschen. Jedenfalls beschloss ich an diesem Tag, dass ich ganz bestimmt wieder hierherkommen würde - irgendwann.
Leider dauerte das „irgendwann“ länger als geplant und erst viele Jahre später machte ich mal wieder Urlaub in Hamburg.
Endlich! Ein paar Tage, um die Stadt richtig kennenzulernen, nochmal neu zu erkunden und den ersten Eindruck sowie die damit verbundene jahrelange Schwärmerei entweder
zu bestärken oder enttäuscht aufzugeben.
Nun hatte ich also endlich die Gelegenheit, Hamburg zu erleben. Ich nutze die U-Bahn, besuchte das Schanzenviertel und die Reeperbahn und versuchte, mich auch fernab der
touristischen Hotspots und typischen Sehenswürdigkeiten zu bewegen. Bei einem
Spaziergang in St. Pauli wurde ich von einem Obdachlosen gefragt, ob er meine
leere Wasserflasche haben dürfe. Ich gab sie ihm und wir kamen ins Gespräch. Der
Mann erzählte mir, wie lange er schon auf der Straße lebte und wie es überhaupt so
weit kommen konnte.
Skrupellose Hamburger Mieten. Mieses System.
Wenigstens war er nicht alleine. Er sagte, dass seine Frau morgen Geburtstag hat
und gerade nicht da ist – Flaschen sammeln. Am nächsten Tag war ich wieder dort
unterwegs, selbe Straße, gleiches Viertel. Ich lief tatsächlich nochmal an dem Mann
vorbei und er erkannte mich sogar. Dieses Mal war seine Frau dabei, der ich zum
Geburtstag gratulierte. Sie aßen Erdbeeren und boten mir auch welche an. „Danke,
lass mal gut sein“, winkte ich ab. Auf keinen Fall esse ich jemandem sein Essen weg,
der weniger hat als ich und für den diese Erdbeeren schlimmstenfalls die einzige
Mahlzeit des Tages ist. Aber ich hatte das Gefühl, dass alleine die Glückwünsche,
ein netter Gruß und die Unterhaltung vom Vortag für die beiden schon viel wert
waren.
Bis zu meinem nächsten Besuch in Hamburg ließ ich danach allerdings nicht
nochmal so viel Zeit verstreichen. Als ich wieder für ein Wochenende mit
meinem Freund in der Stadt war, sah ich nicht ein einziges Mal die Sonne. Es
schüttete fast zwei Tage lang wie aus Eimern – im Hochsommer!
Auf Instagram schaute ich Bilder von Freunden an, die zur selben Zeit bei
strahlendem Sonnenschein im Raum Mitteldeutschland/Oberfranken
unterwegs waren. Obwohl ich Regenwetter und Kälte verabscheue, machte es
mir an diesem Wochenende nichts aus. Ich wollte trotzdem nirgendwo anders
sein. In einem Drogeriemarkt nahe dem Hauptbahnhof musste ich mir für die
Rückfahrt noch etwas zu trinken kaufen, wurde aber erstmal von den Aufstellern am
Eingang abgelenkt und studierte die neusten Kosmetikprodukte. „Kannste mir
die hier mal kurz aufhalten?“, fragte plötzlich jemand von der Seite und hielt
mir eine Plastiktüte vor die Nase, in die er unzählige Pfandflaschen zu stopfen
versuchte. Während ich das eine Ende der Tüte hielt, redete er ununterbrochen und
erzählte mir seine komplette Lebensgeschichte. Ich erfuhr, dass der Mann auch nicht
gebürtig aus der Stadt kam, sondern zugezogen war. „Hamburg macht einen fertig,
ist aber irgendwie trotzdem schön. Naja, mit Humor haben die’s hier oben nich‘ so.
Außerdem denken immer alle, dass ich obdachlos bin, weil ich bei Regen Sandalen
an hab‘. Aber sonst is‘ schon alles gut.“ Irgendwann musste ich allerdings
unterbrechen, da ich meinen Zug erwischen wollte. „Ach du wohnst gar nicht hier?“,
fragte der Typ und schüttelte mir die Hand. „War trotzdem nett. Schreib‘ mir doch mal
über Social Media, ich bin der Carl Zimmermann. Aber mit ‚C‘ und nicht mit K!“
Andere hätten solche Begegnungen vielleicht gemieden, ich fand es toll.
Das hat was Authentisches, Ehrliches. Und zeigt ja immerhin auch, womit man
rechnen kann, wenn man tatsächlich in der Stadt lebt.
Danach schnappte ich mir eine Flasche Wasser, ging zur Kasse und hastete anschließend zum Gleis, auf dem der ICE Richtung Heimat wartete. Im Schaufenster eines Souvenirshops entdeckte ich einen kleinen Teddy, der in einen knallgelben Regenmantel gekleidet war und zwischen haufenweise, teilweise grotesken, Andenken hervorstach. Der gefiel mir. Der Bär war sicher nicht weniger kitschig, erweichte aber sofort mein Herz. Für mich spiegelte er den Kern dieser Hafenmetropole wider – auf den ersten Blick niedlich und nett, aber auch irgendwie standfest, für jede Wetterlage gerüstet und auch mal hart für diejenigen, die weniger privilegiert sind. Ohne seinen Regenmantel würde er nämlich sehr oft ziemlich nass werden und sein flauschiges Fell würde irgendwann Spuren davontragen. Trotzdem verliebt man sich auf den ersten Blick in ihn. Auf der Rückfahrt wurde das Wetter immer besser, je weiter sich der Zug von Hamburg entfernte. Meine Regenjacke konnte also für den Rest des Tages im Rucksack bleiben. Die Bahn war wieder mal völlig überfüllt und verspätet, aber das kannte ich sowieso nicht anders und war darauf vorbereitet. Völlig geschafft, aber glücklich kam ich daheim an.
Außerdem hatte ich während der langen Fahrt genug Zeit gehabt, um nachzudenken und beschlossen: Beim nächsten Mal kommt der Teddy mit nach Hause!