Die erste Liebe und das Heimweh (Carnac, Frankreich)
Hier möchte ich euch von einem meiner ersten größeren Abenteuer erzählen.
Im Rahmen meiner Schul- und Ausbildungszeit bot sich mir die Möglichkeit, ein Auslandspraktikum zu absolvieren. Also bewarb ich mich - zusammen mit einer Mitschülerin - für einen Praktikumsplatz in der Bretagne. Die Zusage erhielten wir unerwartet schnell und plötzlich waren wir uns gar nicht mehr so sicher.
Sollten wir das wirklich durchziehen? Work and Travel, ein Jahr als Au-Pair oder eine Weltreise nach der Schulzeit waren damals noch wesentlich weniger üblich, als heutzutage und Unsicherheit machte sich in mir breit. Schließlich handelte es sich nicht nur um zwei Wochen, sondern um ganze drei Monate. „Mensch, seid doch froh, dass ihr so schnell eine Zusage bekommen und einen Praktikumsplatz sicher habt!“, meinten unsere Mitschüler. Einige von ihnen warteten schon seit Wochen vergeblich auf eine Rückmeldung oder waren noch auf der Suche nach einem geeigneten Praktikumsplatz. Das Praktikum war obligatorisch, musste aber nicht zwingend im Ausland stattfinden. Meine Freundin und ich sagten also zu und die Nervosität mischte sich mit Vorfreude und Abenteuerlust.
Mitte Mai war es dann soweit und meine Mutter fuhr uns zum Flughafen. Da ein Direktflug nicht angeboten wurde, mussten wir in Paris noch einmal umsteigen.
Nach einer erstaunlich entspannten Anreise, kamen wir am Flughafen von Lorient an und wurden dort bereits von einem Mitarbeiter des Hotels, in welchem wir arbeiten sollten, erwartet und nach Carnac Plage gebracht. Leider hatte ich, ganz im Gegensatz zu meiner Freundin, einen ziemlich holprigen Start. Im Hotel angekommen, bekamen wir ein Abendessen serviert, welches zu meinem Leidwesen außer einem großen Stück Fleisch nicht viel beinhaltete. Ich lebte bereits seit der neunten Klasse vegetarisch und war nicht bereit, meine Prinzipien über Bord zu werfen und meine Ernährungsweise zu ändern, nur weil ich ein paar Wochen in einem fremden Land verbringen würde.
Selbstverständlich beschwerte ich mich nicht – schließlich wusste ja vorher noch niemand Bescheid - sondern bot unauffällig Kerstin mein Stück Fleisch an, im Tausch gegen ihr Gemüse. Unser neuer Chef bekam das natürlich sofort mit und wirkte fast empört, als er mich fragte, ob ich denn Vegetarierin sei und ich dies zu allem Überfluss auch noch bejahte.
Als ob das noch nicht genug gewesen wäre, stellte er keine zehn Minuten später fest, dass in meinen Haaren der letzte Überrest der grünen Farbe schimmerte, die ich in meinem jugendlichen Leichtsinn cool gefunden hatte und seit ein paar Wochen regelmäßig auf meinen Schopf schmierte.
„Your hair!“, rief er entsetzt, „is it green in your hair??“ „Of course“, antwortete ich entspannt, bot ihm aber sofort an, es mit einer seriösen Tönung zu überdecken. Wie war der denn drauf? Man kann doch über alles reden und ich war gerade erst vor zwei Stunden angekommen. Das konnte ja spaßig werden. Leider sollte ich mit meiner Vermutung recht behalten, denn ich hatte fortan das Gefühl, dass ich bei diesem Mann komplett unten durch war, noch bevor ich anfing, überhaupt zu arbeiten und ihn von mir überzeugen zu können. Zum Glück durften wir bald feststellen, dass die meisten Kolleg*innen und Einwohner*innen sehr sympathisch und offen waren.
Unser Apartment befand sich nur etwa zehn Minuten Fußweg von unserem Arbeitsplatz entfernt und wurde von uns liebevoll als „Bruchbude“ bezeichnet. Die Unterkunft wurde vom Hotel gestellt, wir mussten also keine Miete zahlen und wohnten dort mit anderen Auszubildenden und Hotelangestellten zusammen. Die Wohnung hatte nur 2 Zimmer inkl. Wohnküche und Badezimmer. Letzteres war während der gesamten Zeit unser Sorgenkind. Es war nicht ungewöhnlich, dass braune Soße aus dem Abfluss der Duschkabine kam, wenn jemand die Toilettenspülung betätigte.
Wir hatten es dennoch gut getroffen, da einige der anderen Praktikant*innen im Keller des Hotels untergebracht worden waren, wo sie sich einen Raum teilten und zum Teil auf einfachen Matratzen schliefen. Außerdem hatten wir in unserem Hausmeister Paolo einen hilfsbereiten und kompetenten Helfer gefunden, der für notwendige Reparaturen zur Verfügung stand.
Nach dem denkbar schlechtesten Start, den man überhaupt haben konnte, überkam mich während der ersten Tage schlimmes Heimweh. Ich vermisste meine Freunde, unsere gemeinsamen Partys, meinen schwarzen Kater und meine Familie. Und das, obwohl ich auch damals schon unheimlich gerne reiste und viel unterwegs war.
Ich schrieb damals ein Reisetagebuch, in dem ich all meine Gedanken und Gefühle festhielt.
Doch dann kam der Tag, an dem sich schlagartig alles änderte.
Wir waren gerade einmal vier Tage in Frankreich, die Aussicht auf mehr als elf weitere Wochen machte mir zu schaffen, aber ich hatte einen freien Tag und beschloss gegen Abend, noch einmal an den Strand zu gehen. Die Tatsache, dass ich direkt am Meer wohnen durfte, wog vieles auf. Ich ging spazieren, setzte mich zwischendurch in den Sand, las und beobachtete nebenbei einen jungen, gut aussehenden Franzosen beim Schwimmen. Er schien ebenfalls alleine unterwegs zu sein. Als er plötzlich auf mich zukam, tat ich, als sei ich in mein Buch vertieft. Er blieb neben meinem Handtuch stehen und redete auf Französisch auf mich ein. Da ich nur die Hälfte verstand, unterbrach ich ihn und bat darum, die Konversation vorerst in Englisch weiterzuführen. Ich war noch immer ein wenig irritiert, dass er mich überhaupt angesprochen hatte, wir unterhielten uns sehr nett und beschlossen spontan, noch etwas trinken zu gehen. Als wir gerade auf dem Weg in ein Café waren, kam uns zufällig meine Freundin und Mitbewohnerin entgegen. „Oh, hi, hast du schon Feierabend? Das ist Pierre, wir haben uns gerade am Strand kennengelernt und wollten jetzt noch was trinken“, rief ich ihr gut gelaunt entgegen. Sie schloss sich uns an und wir verbrachten einen lustigen Abend miteinander. Pierre wohnte allerdings nicht in Carnac, sondern etwa eine Viertelstunde Fahrtzeit entfernt, im kleinen, idyllischen Städtchen Ploemel. Er begleitete uns anschließend zu unserer Wohnung und fragte mich nach meiner Telefonnummer, die ich ihm selbstverständlich gern gab. Es dauerte auch nicht lange, bis ich wieder von ihm hörte. Bereits am selben Abend schrieb er mir eine SMS, in der er sich für den tollen Abend bedankte und mir gestand, dass er sich sehr freute, mich getroffen zu haben. Außerdem konnte er es kaum erwarten, mir mehr von Carnac und der Umgebung zu zeigen.
Als ich an diesem Abend schlafen ging, war mein Heimweh plötzlich gar nicht mehr so schlimm.
So vergingen die Tage und Wochen, wir lebten uns irgendwann richtig gut ein und unsere Kollegen und Kolleginnen wurden zu Freunden. Wir waren hauptsächlich für die Arbeit im Restaurant und im Housekeeping eingeplant und sollten immer im Wechsel in diesen beiden Bereichen tätig sein. Mir machte die Arbeit im Restaurant jedoch keinen Spaß. Ich kam mit dem rauen Umgangston, welcher zuweilen in der Gastronomie herrscht, nicht klar und geriet auch des Öfteren mit unserem Restaurantleiter aneinander.
Meine Begleiterin wiederum arbeitete ungern im Housekeeping, also baten wir darum, nicht mehr wechseln zu müssen und bis zum Ende des Praktikums in der jeweiligen Abteilung arbeiten zu dürfen.
Der Geburtstag meiner Freundin fiel ebenfalls in die Zeit unseres Praktikums und wir planten eine große Party mit all unseren Reisebekanntschaften. Ich bestellte am Vortag in einer nahegelegenen Boulangerie kleine Kuchen für sie, welche ich ihr am Morgen ihres Geburtstages zusammen mit einem bunten Blumenstrauß auf den Frühstückstisch stellte. Am Abend feierten wir zusammen mit unseren französischen Freunden eine feucht-fröhliche Geburtstagsparty, die mit einigen Köpfen über der Toilettenschüssel endete. Auch Pierre wurde eingeladen und übernachtete mit in unserem Apartment. Manchmal übernachtete ich auch bei ihm und er fuhr mich am nächsten Morgen zurück nach Carnac.
„Ça va?“, fragte mich Maria, unsere Kollegin und Mitbewohnerin, eines Morgens. „Ich bin müde“, antwortete ich, was sie nicht zu überraschen schien. „Du bist immer müde!“, stellte sie fest. „Das stimmt“, gab ich zu und hoffte, dass die Ursache dafür nicht allzu deutlich auf der Hand lag. Doch Maria hatte mich durchschaut: „Ich weiß nicht, was ich für dich tun kann. Stop going out every night!“
An den freien Tagen unternahm ich oft etwas mit meiner Freundin oder mit Pierre, manchmal aber auch allein. Wir machten Ausflüge und lernten die Umgebung kennen, feierten wilde Partys und lagen auch mal faul am Strand. Auch die Feierlichkeiten zum französischen Nationalfeiertag am 14. Juli durften wir miterleben.
Ein weiteres Highlight für mich, war ein gemeinsamer Konzertbesuch mit Pierre. Er war Anfang 20, hatte ein eigenes Auto und fuhr eines Abends mit mir nach Rennes. In einem verruchten Schuppen namens "Mondo Bizarro" spielte an diesem Abend einer seiner Kumpels mit seiner Hardcore-Band. Ich liebte es schon damals, Orte zu besuchen, die nicht für die durchschnittlichen Touristen ausgelegt waren und mich unter die Einheimischen zu mischen. Während der Fahrt wechselte ich noch meine Klamotten und Pierre schien etwas irritiert, als ich im BH auf dem Beifahrersitz saß. Dabei dachte ich immer, gerade die Franzosen sind so überhaupt nicht prüde.
Meine Freizeit verbrachte ich außerdem auch sehr oft im benachbarten Internetcafé.
Vom Hotel aus durften wir einmal pro Woche telefonieren und für 15 Minuten ins Internet. Es ist schwer vorstellbar, aber wir hatten zu dieser Zeit weder Smartphones noch Tablets oder ähnliches und mit meinem Prepaidvertrag zahlte ich horrende Summen, wenn ich nach Deutschland telefonieren wollte. Eine günstige Alternative waren Telefonkarten und da sich gleich mehrere Telefonzellen in der Nähe unserer Wohnung befanden, nutzte ich diese häufig.
Einmal rief ich einen guten Freund aus der Telefonzelle an, er schrie mir vor Freude ins Ohr, als er meine Stimme hörte und wir verquatschten eine komplette Telefonkarte. Ich gab ihm die Nummer der Telefonzelle, in der ich mich befand, damit er mich dort anrufen konnte, was er selbstverständlich auch umgehend tat.
Auch mit anderen Freunden hielt ich regelmäßigen Kontakt und informierte die Zuhause Gebliebenen natürlich stets über alle schmutzigen Details aus meiner vorübergehenden Heimat, so wie ich ebenfalls den neuesten Klatsch und Tratsch aus dem Thüringer Wald erfuhr. In meinem Reisetagebuch notierte ich mir Ideen für Mitbringsel und schrieb selbstverständlich auch Postkarten an alle Freunde und Familienmitglieder. Zwischendurch erhielt ich sogar handgeschriebene Briefe und Päckchen. Könnt ihr euch das heute noch vorstellen? Die Freude darüber war damals unbeschreiblich und so ein mühevoll geschriebener Brief oder ein liebevoll gepacktes Paket sind doch etwas viel Persönlicheres, als eine Nachricht über WhatsApp o. Ä.
Mit meinen Kolleginnen vom Housekeeping verstand ich mich prächtig. Zum Mittag- und Abendessen trafen wir uns alle im Hotel und aßen gemeinsam. Die beiden Frauen und ich alberten ausgelassen herum und machten Witze. „Die mögen dich sehr, oder?“, stellte meine Freundin fest. „Kann sein“, antwortete ich und aß unbehelligt weiter. „Ich meine, die blödeln mit dir rum, als wärst du ihre Schwester.“ „Ach so, du meinst, MICH mögen die sehr? Ich hab verstanden ‚die mögen Dessert‘.“, lachte ich.
Hier alle Geschichten im Detail zu erzählen, würde genug Inhalt für ein eigenes Buch bieten. Aber man darf auch seine Geheimnisse haben, frei nach dem Motto: „Was in Frankreich passiert, bleibt auch in Frankreich.“
Irgendwann rückte leider doch das Ende des Praktikums - und somit unser Abschied - immer näher. Am Tag vor der Abreise stand Pierre extra früh am Morgen auf und kam nach Carnac, um mich vor Dienstbeginn noch einmal zu treffen und zu verabschieden. Vor diesem Moment hatte ich seit Tagen Angst. Ich würde vieles vermissen, freute mich aber auch darauf, meine Familie und Freunde wiederzusehen. Ich war hin und her gerissen.
Nachdem Pierre gegangen war und ich das Hotel betrat, spürte ich, dass ich weinte. So gern, wie ich anfangs wieder nach Hause wollte, so gern wollte ich jetzt bleiben. Es brach mir das Herz. Wahrscheinlich war es das, was man als die erste Liebe bezeichnete. Selbstverständlich hatte ich auch zu Hause schon ein paar Erfahrungen gesammelt und meinem allerersten Freund Toni wollte ich keinen geringeren Stellenwert zuschreiben. Trotzdem fühlte sich das hier anders an, irgendwie erwachsener und ernsthafter.
Passend dazu, verlief unsere Heimreise um einiges chaotischer, als die Anreise. Unser Flug von Lorient nach Paris/Orly hatte Verspätung, doch noch waren wir entspannt. Da wir in Paris mit dem Bus von einem Flughafen zum anderen fahren mussten, planten wir bei der Buchung einen großen Zeitpuffer ein, wie es uns auch empfohlen wurde. In Paris gelandet, lies unser Gepäck allerdings viel zu lange auf sich warten und langsam wurden wir unruhig. „Also, wenn unsere Koffer nicht bald kommen, verpassen wir den Bus“, sagte ich und wurde bereits ein wenig unruhig. Ganz im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung, trat genau dieser Fall auch ein. Die Koffer kamen, der Bus zum Flughafen Charles de Gaulle war jedoch bereits abgefahren und der Zeitpuffer bis zum nächsten Flug wurde immer knapper. Als endlich der nächste Bus kam, wussten wir bereits, dass wir heute nicht mehr nach Hause fliegen würden. Ich rief unseren Transfer an, der bereits auf dem Weg nach Nürnberg war, um uns abzuholen und kratzte all meine Sprachkenntnisse zusammen, um dem Herrn am Flughafenschalter unsere Situation schildern und eine Lösung finden zu können. Da erst am nächsten Tag wieder ein Flug ging, wurde uns eine kostenlose Übernachtung in einem Hotel nahe dem Flughafen angeboten und somit konnten wir eine weitere Nacht in Frankreich verbringen. Unsere Freude wurde allerdings etwas geschmälert, als uns ein Mitarbeiter des Hotels riet, in dieser Ecke von Paris nach Anbruch der Dunkelheit besser nicht mehr unterwegs zu sein. Trotzdem machten wir das Beste aus der Situation, blieben im Hotel und freuten uns wieder ein bisschen mehr auf zu Hause.
Mit Pierre hielt ich auch einige Monate nach meiner Rückreise noch Kontakt, wir schickten uns Postkarten und E-Mails. Wie versprochen, meldete ich mich nach der Landung umgehend bei ihm, um mitzuteilen, dass ich wieder sicher und gesund in der Heimat angekommen war. Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten und sofort wurde mein Herz ein bisschen schwer.
Doch dann erreichte mich eine SMS von einem meiner Freunde, mit denen ich sofort nach meiner Rückkehr ein Treffen verabredet hatte: „Hey Miss France! Schreib dann, wenn du kommst, damit wir dir entgegen laufen können. Vermissen dich! HDGDL“, und sofort war die Traurigkeit verschwunden.