Mit Volldampf auf die Grüne Insel

Schon in meiner Jugend träumte ich von Irland. Die Mythen, die Musik, die Natur ­­– all das faszinierte mich unglaublich. 
Kobolde, die auf Regenbögen spazieren gehen, Schabernack treiben und zu den Klängen von Geigen tanzen, niedliche Schafe und herzliche, trinkfeste Menschen, die einen jederzeit zum 
Mitfeiern einladen und immer ein leckeres Guinness vorrätig haben – so stellte ich mir die grüne Insel in meiner kindlichen Fantasie vor. 
Irland war immer ein Sehnsuchtsort für mich - ebenso wie dies für andere vielleicht eine unbewohnte Insel im Pazifik, eine Weltmetropole wie New York oder Tante Inges Schrebergarten 
am Ende des Dorfes ist – und gar nicht mal so unerreichbar, wie es mir damals vorkam. 
 
Nachdem ich jahrelang keine Reisebegleitung für einen Trip auf die Grüne Insel finden konnte, beschloss ich im Frühjahr 2018, alleine dorthin zu reisen. 
Ich habe keine Angst davor, auch mal alleine unterwegs zu sein und außerdem war es für mich nun mal ein großer und langer gehegter Wunsch, nach Irland zu reisen. Ich recherchierte und suchte Angebote heraus – ob alleine, per Flug oder mit einer kleinen Gruppe. Irgendwann stieß ich auf ein tolles Angebot, welches die Möglichkeit beinhaltete, ohne Flugzeug und stattdessen per 
Bus und Fähre nach Irland zu gelangen. Das dauerte zwar um einiges länger und war sicher auch anstrengender, klang für mich aber so, als könnte die Anreise bereits ein Abenteuer werden. 
Außerdem bin ich gerne auf dem Wasser unterwegs und freute mich schon auf die Nachtfähre. Ich buchte also die Reise und war wochenlang voller Vorfreude. 

Der Tag meiner Abreise sollte sogar der erste warme Frühlingstag des Jahres werden, nachdem der Winter dieses Mal hartnäckig war und ungewöhnlich lange gedauert hatte. Für Irland waren jedoch weiterhin viel niedrigere Temperaturen angekündigt worden, sodass ich dieses Mal aus warmen Gefilden in kältere reiste, was ein wenig ungewohnt war, da das für mich eher untypisch ist. Normalerweise ziehe ich den Süden vor, doch dieses Mal war die Euphorie so groß, dass mir das überhaupt nichts ausmachte. 
 Am frühen Morgen startete ich also freudestrahlend vom Busbahnhof und stieg voller Aufregung in den Bus nach Rotterdam. Dort sollten wir am späten Nachmittag oder frühen Abend ankommen, um rechtzeitig auf der Fähre einzuchecken, die die Passagiere über Nacht ins englische Hull schippern würde. Zum Glück verlief dieser Teil der Reise reibungslos und auf der Fahrt freundete ich mich sogar mit einer älteren Dame an, die ebenfalls unterwegs auf die grüne Insel war und im Bus neben mir saß. Sie hatte die Reise geschenkt bekommen und freute sich zwar darauf, war aber auch ein wenig nervös, da sie kein Englisch sprach und Angst hatte, sich nicht zurechtzufinden. Ich bot ihr an, ihr behilflich zu sein und ab diesem Moment waren wir beide nicht mehr allein auf Reisen. Da wir etwas früher in Rotterdam ankamen, hatten wir noch ein bisschen Zeit, die ich nutzte, um noch ein wenig in der Nähe der Fähre am Hafen umher zu spazieren und die Umgebung zu erkunden. Der Check-in für die Nachtfähre erinnerte mich stark an den am Flughafen – es gab lange Schlangen, Sicherheits- und Gepäckkontrollen und langweilige Wartezeiten.
Nachdem wir endlich die Fähre betreten konnten, wurde uns am Eingang unsere jeweilige Kabinennummer zugeteilt und der Weg, der zu dieser führte, erklärt. In diesem Moment verlor ich meine neue Reisebekanntschaft aus den Augen und war nun erstmal wieder auf mich allein gestellt. Es dauerte eine ganze Zeit, bis ich zu meiner Kabine fand und auch danach ich verlief ich mich tatsächlich mehrmals. 
Auf einer Fähre in dieser Größe war ich bisher noch nie gewesen und ich war gespannt wie und ob ich auf hoher See schlafen konnte. Den ganzen Abend erkundete ich auf eigene Faust das Schiff, aß meine mitgebrachten Snacks – die ich auf dem Weg zum Hafen unterwegs noch gekauft hatte – und genoss die Aufregung und ein Gefühl von Freiheit. Es fühlte sich abenteuerlich an, rundherum nichts weiter als Wasser zu sehen und zu wissen, dass die nächste Landmasse viele Kilometer weit von mir entfernt war. Als mich das Sandmännchen eingeholt hatte, kuschelte ich mich in meine Kajüte und schlief erstaunlich gut. Am nächsten Morgen wurden wir per Durchsage zum Frühstück geweckt, da die Fähre gegen 9 Uhr in Hull anlegen sollte und dann alle Passagiere 
fertig sein mussten, um von Bord gehen zu können. 
Nach dem Frühstück holte ich mein Gepäck aus der Kabine und betrat zum ersten Mal in meinem Leben englischen Boden. Endlich traf ich auch meine Reisepartnerin wieder, die ebenfalls sehr bedauerte, dass wir uns beim Einchecken aus den Augen verloren und auf der Fähre nicht wiedergefunden hatten. Unsere Fahrt ging weiter – quer über die großbritannische Insel und durch Wales, bis wir am späten Abend auf der anderen Seite des Landes ankommen sollten und dort unsere letzte Etappe – die Überfahrt nach Dublin – auf uns wartete. 
Unterwegs legten wir noch einen Zwischenstopp im englischen Chester ein. Dieser Ort war mir nie als potentielles Ausflugsziel in den Sinn gekommen, beeindruckte mich aber ungemein. Ich war vom Charme dieser wunderschönen Stadt begeistert und fühlte mich – angesichts der Architektur, der kleinen, feinen Geschäfte, Cafés mit bunten Törtchen und Uhren in Metallgestellen, die über der Straße hingen – wie Alice im Wunderland. Meine Reisebekanntschaft schloss sich mir an und wir bummelten gemeinsam durch das Stadtzentrum. Als wir am appetitlichen Schaufenster einer niedlichen Bäckerei vorbeikamen, konnte ich nicht mehr widerstehen und kaufte zwei kleine, farbenfrohe Törtchen, die erwartungsgemäß hervorragend schmecken. In Holyhead angekommen, bestiegen wir einen Katamaran, der uns hinüber auf die Grüne Insel bringen sollte. Leider war diese Fahrt um einiges unangenehmer und ungemütlicher, als die Tour mit der Nachtfähre. Das Schiff war relativ klein, da es nur für eine ca. einstündige Überfahrt und nicht zum Übernachten gedacht war und dementsprechend auch weniger schwer und ruhig. Das Wetter an diesem Tag war unmöglich und typisch englisch – stürmisch und verregnet. Wir hatten mit einem mörderischen Wellengang zu kämpfen, das Boot schaukelte so sehr, dass ich überrascht war, dass es sich nicht noch überschlug. Auf beiden Seiten sah man nur den grauen Himmel, wenn man aus dem Fenster schaute, so stark war die Neigung des Katamarans. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Passagiere anfingen, sich zu übergeben. Einer nach dem anderen hing mit blassem Gesicht über den Tischen und stützte sich mit den Armen ab. Die Mitarbeitenden waren erstaunlich standfest und fit und waren nur damit beschäftigt, mit Handschuhen und großen Müllsäcken über das Deck zu flitzen und die Hinterlassenschaften der Reisenden einzusammeln. Ich war positiv überrascht, dass es mich bisher noch nicht erwischt hatte, obwohl ich allgemein einen sehr empfindlichen Magen habe. Aber das Phänomen kennt sicherlich jeder – je mehr man sich bemüht, etwas nicht zu tun und versucht, etwas zu unterdrücken, umso wahrscheinlicher ist es, dass genau das passiert. Kurz vor Ende der Fahrt konnte ich es auch nicht mehr aufhalten und würgte den Mageninhalt des gesamten Tages wieder heraus – einschließlich der leckeren Gebäckstücke aus Chester. „Schade um die guten englischen Törtchen“, dachte ich. Das war ja wirklich rausgeschmissenes Geld! Meiner Reisebegleitung ging es erstaunlich gut – sie war eine der wenigen auf dem Boot, die sich nicht übergeben musste. 
 

Als wir schließlich das Hotel erreichen, hatte ich immer noch ein flaues Gefühl im Magen und auch kein Bedürfnis nach einem üppigen Abendessen. Es wurden eine Vorsuppe und ein Dessert angeboten, sowie ein Hauptgericht, welches natürlich wieder sehr Fleisch lastig war. Die leidige Diskussion über ein vegetarisches Essen konnte ich mir dieses Mal sparen, da ich nach der holprigen Fahrt mit dem Kahn sowieso keinen Hunger hatte. Ausgerechnet an diesem Abend waren die Kellner fast schon zu fürsorglich und erstaunlich flexibel und mir wurden allerhand vegetarische Gerichte empfohlen, die ich schweren Herzens ablehnen musste. „Soll ich Ihnen eine Pasta bringen?“, fragte die nette Bedienung. „Nein, danke“, erwiderte ich. „Möchten Sie wirklich nichts anderes, wir hätten noch dies und jenes im Angebot...“ und wieder verneinte ich. Dem Kellner war das sichtlich unangenehm, er war wirklich extrem bemüht und tat mir fast schon leid. Ich versicherte ihm mehrmals, dass die Suppe und das Dessert vollkommen ausreichend sind, da ich ohnehin gerade Magenprobleme habe. Trotz allem Unwohlsein war ich fröhlich und konnte noch immer nicht fassen, dass ich tatsächlich endlich in Irland war. Nach dem Abendessen genoss ich mein Einzelzimmer, in welchem sogar eine Badewanne vorhanden war. Ich liebe das Baden und gönnte mir eine heiße Wanne, bevor ich mich ins Bett kuschelte, ein Buch las und meine allererste Nacht in Irland verbrachte. 
Am nächsten Tag ging es schon weiter zur Klosterruine Clonmacnoise, den Ring of Kerry entlang und wieder zurück nach Dublin. Ich bin normalerweise kein Fan von Großstädten, aber in Dublin hatte ich – trotz Hauptstadt-Status - kaum das Gefühl, in einer großen, hektischen Stadt zu sein, sondern empfand sie eher als relativ übersichtlich und gemütlich. Meine Reisefreundin und ich kehrten in einem Pub ein, der auch bereits zu dieser – noch recht frühen – Uhrzeit gut gefüllt war. Ich fühlte mich auf Anhieb wohl in dieser Stadt. Leider konnte ich in Dublin nicht so viel Zeit verbringen, wie notwendig gewesen wäre, um das Feeling der irischen Metropole ausführlich aufzusaugen, da ich auf einer Rundreise war und die Fähre in Richtung Heimat bereits am nächsten Tag ablegen sollte. Ich nahm mir allerdings fest vor, dass dies zwar mein erster, jedoch definitiv nicht mein letzter Besuch auf der Grünen Insel gewesen ist. Irgendwann würde ich noch einmal nach Dublin kommen und dann auch mit noch mehr Zeit im Gepäck. 
Die Heimreise verlief auf demselben Weg, allerdings weniger aufregend. Ich musste mich auf dem Schiff glücklicherweise kein zweites Mal übergeben und verlief mich auch nicht mehr andauernd. Außerdem achtete ich darauf, meine Bekannte nicht wieder aus den Augen zu verlieren, sodass wir den Abend zusammen verbringen und – zum Abschied - in der Bar auf der Fähre gemeinsam einen letzten Irish Coffee mitten auf dem Meer genießen konnten.

Das Ende einer Reise verursacht ja immer ein anderes Gefühl, als der Anfang. Die Vorfreude war verschwunden und die Aufregung war schönen Erinnerungen gewichen. Obwohl ich statt Kobolden nur Schafen begegnet war und auch keinen Topf mit Gold am Ende eines Regenbogens gefunden hatte, fühlte ich mich so beseelt und zufrieden wie schon lange nicht mehr - und das war nicht ausschließlich dem Konsum von Guinness und Irish Coffee zu verdanken, sondern der ganz speziellen mystischen Aura dieser wunderschönen Insel. 
Ich bin froh, mir diesen Wunsch endlich erfüllt zu haben und zehre noch heute von den einzigartigen Erinnerungen dieser Reise.