Der Weg ist das Ziel

Vor einigen Jahren verreiste ich mal mit einem guten Freund, den ich schon seit der frühen Schulzeit kenne. Wir hatten schon lange geplant, gemeinsam einen Urlaub zu verbringen und so beschlossen wir irgendwann, im Herbst endlich einmal für ein paar Tage wegzufahren. 
Da wir beide zu dieser Zeit gerade flexibel waren und auch zeitgleich frei nehmen konnten, nutzen wir diese Gelegenheit und schauten uns nach passenden Angeboten um. Obwohl ich eine Vorliebe für warme Gefilde habe - für Sonne, Strand und Meer - und ebenso gerne die Welt kennenlernen möchte, gibt es auch hier in unserem Heimatland noch viele für mich unbekannte Ecken.
Mein Kumpel ist ohnehin eher das Gegenteil eines Weltenbummlers und da uns in diesem Fall der Weg (und das gemeinsame Erlebnis) wichtiger schien, als das Ziel, gaben wir uns auch mit einem weniger weit entfernten Urlaubsort zufrieden. Wir wollten einfach mal für ein paar Tage raus aus dem Alltag. 
Ich informierte mich und holte verschiedene Angebote ein, fragte meinen Mitreisenden nach seiner Meinung und schließlich entschieden wir uns dafür, ein paar Tage in Merseburg zu verbringen. Wir hatten ein tolles Angebot entdeckt und beschlossen, mit der Bahn zu reisen.
Am Anreisetag wurden wir von der Mutter meines Kumpels zum Bahnhof gebracht. Zusätzlich zu seinem Koffer, hatte er auch noch eine Tasche mit seinem Laptop im Schlepptau. „Was hast du denn damit vor? Nimmst du den extra mit, damit wir abends Filme schauen können?“, fragte ich ein wenig skeptisch und freute mich schon.
„Nee“, erwiderte er überrascht, als ob ich nicht selbst darauf hätte kommen können. "Ich will auch nebenbei noch was arbeiten, die Firma schläft nie.“ „Ach, du hast doch einen Knall“, sagte ich amüsiert und wir stiegen in den Zug ein.

Die Hinfahrt verlief komplikationslos und ohne besondere Vorkommnisse. Unser Hotel befand sich in der Nähe des Bahnhofs, so dass wir auch gar nicht weit laufen mussten. Am ersten Nachmittag bummelten wir ein wenig durch die Stadt, besichtigten den Dom und wollten die Umgebung kennenlernen. Im Hotel gönnten wir uns zum Abschluss des Tages
noch ein leckeres Abendessen und tranken noch etwas an der Bar.
Es dauerte nicht lange und ich war dankbar, dass mein Freund seinen Laptop mitgenommen hatte.
Am ersten Morgen wuselte er bereits um sieben Uhr morgens im Zimmer herum und wirkte wie frisch aus dem Ei gepellt. Ich hingegen schnarchte noch selig vor mich hin, denn ich bin alles andere als ein Morgenmensch. Man sagt ja, dass man im Grunde zwei Schlaftypen unterscheidet – die Lerche (in diesem Fall mein Begleiter) und die Eule (ich). 
Ihr könnt euch also vorstellen, wie schwierig es für diese beiden Vögel ist, sich vorübergehend ein Nest zu teilen.
Um mich nicht allzu sehr zu stören, verhielt er sich zumindest ruhig und setzte sich an seinen Laptop oder schlich sich zum Rauchen auf den Balkon. So konnte er sich immerhin relativ geräusch- und bewegungsarm beschäftigen, ohne mich unsanft aus meinem Traumland zu reißen.
Irgendwann wurde es meinem Mitreisenden aber dann doch zu bunt. „Willst du nicht langsam mal aufstehen, ich hab Hunger“, bemerkte er. Ich riss die Augen auf. „Ist ja gut... jetzt wo du’s sagst – Hunger habe ich auch, außerdem brauche ich dringend einen Kaffee.“ Die Aussicht darauf, etwas in den Magen zu bekommen und nicht den gesamten Urlaub zu verschlafen, motivierte mich schließlich dazu, mich fertig zu machen und den Speiseraum aufzusuchen. 
Schließlich hatten wir uns für heute auch noch etwas vorgenommen. Nach einem ausgiebigen Frühstück stand ein Besuch der Sektkellerei in Freyburg an, den wir beide einstimmig in unseren Reiseplan integriert hatten und auf den wir uns auch schon sehr freuten. Vorher wollten wir uns natürlich auch noch die Stadt anschauen. 
Gegen Mittag bemerkte ich, dass mein Magen knurrte. 

„Was wollen wir denn eigentlich zum Mittag essen?“, wollte ich von meinem Kumpel
wissen. 
„Wie, Mittag?“, fragte dieser überrascht, „also ich bin noch satt, wir haben doch erst
gefrühstückt. Wie kannst du denn schon wieder Hunger haben?“ 
„Was heißt denn ‚erst gefrühstückt‘?“, entgegnete ich entgeistert. „Das ist doch schon Stunden her und außerdem ist das nicht ungewöhnlich, dass man trotzdem mittags wieder Hunger hat. Wenn wir nachher noch eine Führung durch die Sektkellerei machen wollen und da eine Verkostung dabei ist, brauch ich unbedingt noch was im Magen. Sonst bin ich ja dann gleich besoffen.“ „Na gut, da hol dir halt was. Ich brauch’ nix zu Essen.“ 
Als Morgenmensch nahm mein Freund normalerweise gegen halb sieben, spätestens sieben Uhr, sein Frühstück ein, aß gegen zwölf Uhr Mittag und benötigte dann für den Rest des Tages keine weitere Mahlzeit mehr. Durch das - für ihn ungewohnte - späte Frühstück konnte er also auch noch das Mittagessen ausfallen lassen.

Glücklicherweise fanden wir gleich in der Nähe eine Imbiss-Bude, wo ich mir einen
vegetarischen Döner holte. „Du schaffst jetzt echt schon wieder einen ganzen Döner?“, fragte mein Begleiter erstaunt und schaute mich an, als wäre ich ein biologisches Wunder.

Nach der Stärkung ging es mir gleich deutlich besser und wir machten uns gut gelaunt auf in Richtung Sektkellerei. Dort meldeten wir uns für eine Führung an und konnten uns im Rahmen dieser auch ein wenig durch das Sortiment kosten. Eine bestimmte Sorte, die nach Kaffee schmeckte, hatte es uns ganz besonders angetan, so dass wir anschließend noch ein paar Fläschchen im Werksverkauf erwarben. Diese waren einerseits für uns, andererseits auch für Freunde und Verwandte als Mitbringsel gedacht.

Nach diesem anstrengenden und ereignisreichen Tag, wollten wir uns im hoteleigenen Wellnessbereich noch eine Massage gönnen und buchten zwei Termine. Da nur eine Masseurin im Dienst war, fanden diese hintereinander statt. Mein Kumpel überließ mir – ganz Gentlemen – den Vortritt. „Das dauert ungefähr 30 Minuten“, sagte die Masseurin und wandte sich an ihn: „Kommen Sie einfach in ca. einer halben Stunde wieder.“ Als die Zeit um und meine Massage schon seit einer Weile beendet war, fehlte von ihm allerdings noch jede Spur. Wir warteten geduldig und hielten noch einen kleinen Plausch. „Ja, ja, so ist das“, sagte die Masseurin plötzlich, „mein Mann will auch immer nichts von mir wissen.“ „Ähm, das ist nicht mein Mann oder Freund, sondern einfach nur ein sehr guter Kumpel“, stellte ich das Missverständnis klar. 
„Sicher... mit einem guten Kumpel ins Hotel fahren“, kicherte sie und zwinkerte mir zu. Ich sagte nichts mehr dazu und verdrehte nur innerlich die Augen. Anscheinend sind platonische Freundschaften zwischen Männern und Frauen für die meisten Menschen immer noch unvorstellbar, aber es war mir auch schlicht und einfach egal, was andere Leute über uns dachten.
Kurze Zeit später tauchte mein Freund aber im Wellnessbereich auf und ich verzog mich ins Zimmer.

Den Abend ließen wir wieder an der Hotelbar ausklingen, vorher bestellte ich mir aber noch etwas zum Abendessen. Mein Kumpan sah auch darin wieder keine Notwendigkeit, aß aber anstandshalber eine kleine Vorspeise mit.

Da wir leider nur einen kurzen Aufenthalt gebucht hatten, ging es bald schon wieder nach Hause. Die Rückfahrt verlief allerdings bei Weitem nicht so entspannt, wie die Anreise. 
Bis Naumburg klappte alles reibungslos, aber nicht weit hinter der Stadt kam unser Zug urplötzlich zum Stillstand, mitten im Nirgendwo. Den Fahrgästen wurde mitgeteilt, dass es sich lediglich um eine kleine technische Störung handele, die gleich behoben werden sollte und dass bereits eine Ersatzlok angefordert worden war. Diese war allerdings lange nicht in Sicht und wir wurden allmählich ungeduldig.
Es war ein heißer Herbsttag und zu allem Überfluss funktionierte auch die Klimaanlage nicht. Wir schwitzten und all unsere Reserven waren aufgebraucht, doch leider gab es keine Möglichkeit, Getränke zu erwerben, da weder Bahnhof noch Bordbistro vorhanden waren.

Nach etwa einer Stunde sahen wir voller Euphorie, dass eine Lok an unserem Fenster
vorbeifuhr und rechneten jede Minute mit der Weiterfahrt. Diese Hoffnung wurde jedoch leider getrübt, denn es dauerte eine weitere Stunde, bis die Lok angekoppelt worden war.
Mein Kumpel lief nervös im Waggon auf und ab und entdeckte tatsächlich jemanden, der im Zug rauchte. Offenbar war das Verlangen so enorm, dass die Disziplin der langen Wartezeit zum Opfer gefallen war. Augenblicklich überkam ihn ebenfalls das Bedürfnis und er befriedigte seine Sucht in einer kleinen, nicht einsehbaren Ecke während er unaufhörlich Nachrichten an seine Mutter schrieb, die uns am Bahnhof wieder abholen wollte und nun ständig fragte, wann und wie denn die Reise weiterging. 
Irgendwann resignierten wir und beschlossen, aus der Not heraus, die als Mitbringsel gedachten Sektflaschen zu köpfen, um überhaupt irgendetwas zum Trinken zu haben und vielleicht auch ein wenig die Stimmung aufzuhellen. Nach dieser Geschichte würden die Lieben zu Hause sicher Verständnis dafür haben, in Anbetracht unserer Notlage. Immerhin waren wir stundenlang mit anderen Reisenden - deren Laune nicht viel besser war als unsere – ohne Informationen, Wasser und Klimaanlage im Zug eingesperrt.
„Warum musstest du auch den Bummelzug buchen?“, fragte mein Mitreisender mal wieder. Seit Beginn der Rückfahrt lag er mir damit in den Ohren, dass er ausschließlich mit dem ICE reiste und damit noch nie Probleme hatte. Ich war für die Organisation zuständig gewesen und erklärte ihm erneut, dass die Übernachtung und die Zugfahrt mit der Regionalbahn ein Pauschalangebot gewesen waren.

Als wir schließlich endlich den Zielbahnhof erreichen, führte unser erster Weg in
das Infozentrum der Deutschen Bahn, um von unserer Misere zu berichten und eine
Wiedergutmachung zu fordern. Freudestrahlend überreichte uns die nette Person am Schalter einen Gutschein für unsere nächste Fahrt. „Gibt es denn keine Möglichkeit, den
Anteil in bar zurück zu erhalten?“, fragte ich, denn vom Bahnfahren hatten wir erst einmal
genug. „Leider nein“, wurde uns erklärt, „wir stellen nur Gutscheine aus.“ „Das ist ja wie in einem schlechten Horrorfilm“, flüsterte ich an meinen Freund gewandt. Wir freuten uns allerdings trotzdem über die kleine Entschädigung, schließlich hatten wir ja bereits ein paar Piccolos intus.

So hatten wir wenigstens einiges zu berichten, als wir am späten Abend schließlich zu Hause ankamen. Wir hatten uns extra ein etwas weniger weit entferntes Urlaubsziel ausgesucht und nun waren wir so lange unterwegs gewesen, dass wir auch nach Mallorca und wieder zurück hätten fliegen können. 

Manchmal ist eben doch der Weg das Ziel.

Trotz dieser unschönen, aber auch lustigen Erfahrung, ziehe ich auf bestimmten Strecken die Bahn dem Auto oder Flugzeug vor. Und immerhin entstehen durch solche Vorfälle die schönsten Geschichten, die uns noch lange in Erinnerung bleiben werden :)