Die Toiletten der Welt
Im Herbst 2019 stand eine lang ersehnte Reise über den Atlantik an, auf die ich mich bereits seit Monaten freute. Ein Freund unserer Familie wohnte eine Zeit lang aus beruflichen Gründen in den USA – genau genommen in Texas – und lud uns ein, ihn zu besuchen.
Da sogar meine Oma schon einmal dort gewesen war, wurde es für mich also höchste Zeit, die Gelegenheit nun endlich auch mal zu nutzen. Ich flog zusammen mit meiner Mutter und ihrem Lebensgefährten hin und anschließend wollten wir noch einen Urlaub in Mexiko verbringen. Immerhin sollte es sich auch lohnen, über den Atlantik zu fliegen.
Am Vortag des geplanten Fluges fuhren wir bereits nach Frankfurt in ein Hotel, um am nächsten Morgen fit uns ausgeruht zu sein. Gegen 10 Uhr startete unser Flieger nach Houston. Der Flug war an sich schon ein Abenteuer, da wir mit dem neuen Airbus A380 unterwegs sein durften und dieser über 2 Etagen verfügte.
Noch nie zuvor war ich in so einem großen Flugzeug gereist. Auch die Aussicht war atemberaubend. Als wir in Houston landeten, zeigte die Uhr 14 Uhr Ortszeit an, obwohl wir bereits um 10 Uhr am Vormittag gestartet und gute zehn Stunden unterwegs gewesen waren. Es war ein komisches Gefühl, aber noch verspürte ich weder Müdigkeit, noch Erschöpfung.
Zu unserem endgültigen Ziel – die Grenzstadt El Paso – gab es leider keinen Direktflug, sodass wir in Houston nochmal abheben und gute 1,5 Stunden weiterfliegen mussten.
Beim Check-in sah uns der nette Officer – optisch frisch einer typischen US-Serie entstiegen – interessiert an und fragte, was um alles in der Welt wir denn in El Paso vorhatten. Offensichtlich ist die Stadt an der mexikanischen Grenze nicht gerade der Nabel der Welt und vermutlich auch nicht das übliche Ziel für Touristen.
„Do you like horse riding?“, fragte der Officer weiter, auf der Suche nach einer Erklärung, warum wir an diesen Ort reisen möchten. Wir erklärten ihm, dass wir nur in die Stadt wollten, um einen Bekannten zu besuchen, der nun mal ausgerechnet dort wohnte. Nachdem wir endlich auf dem Flughafen von El Paso landeten und auf unser Gepäck warteten, wurden wir direkt dort von unserem Gastgeber abgeholt.
Die Begrüßung fiel sehr herzlich aus, aber allmählich meldete sich doch der Jetlag. Obwohl wir erst 20 Uhr Ortszeit hatten, war es in Deutschland bereits spät nachts, die Reise war anstrengend und mein Körper fühlte sich vermutlich ein bisschen veräppelt. Die Strecke vom Landeplatz bis zum Haus unseres Freundes, fiel glücklicherweise recht kurz aus. Dort angekommen, nahmen wir nur noch ein kleines Abendessen ein und fielen sofort todmüde ins Bett. Für ausführliche Gespräche und Erkundungen der Nachbarschaft war an den folgenden Tagen noch genug Zeit.
Als ich an meinem ersten Morgen in Texas erwachte und aus dem Fenster schaute, traute ich meinen Augen nicht - der Himmel war wolkenverhangen und es regnete, obwohl sowohl Bekannte, Gastgeber und auch diverse Internetseiten uns glaubhaft versicherten, dass so etwas in dieser Region fast nie vorkommt. Die Ausnahme trat natürlich ausgerechnet dann ein, als wir dort waren, na klar. Alles andere wäre ja auch zu einfach gewesen. Aber bekanntlich gibt es ja auch überhaupt kein schlechtes Wetter, sondern nur unpassende Kleidung und die falsche Sichtweise und bevor wir uns damit abfinden konnten, hatte der Wettergott Nachsicht hatte und die Wolken lichteten sich im weiteren Verlauf des Tages.
Unser Freund und seine Frau waren Gastgeber wie aus dem Bilderbuch und verwöhnten uns nach Strich und Faden. Wir hatten den Reisezeitraum so gewählt, dass dieser mit seinem Urlaub übereinstimmte und somit konnte er sich den ganzen Tag für uns Zeit nehmen. Wir wanderten im Franklin Mountain State Park, besuchten den Nationalpark „White Sands“ in New Mexiko, aßen in großartigen mexikanischen Restaurants und nutzten den Garten mit dazugehörigem Pool. Einen Abstecher in die Innenstadt von El Paso planten wir bei einem unserer Ausflüge selbstverständlich auch mit ein.
Für diejenigen, die mich nicht kennen, hier noch eine kleine Insider-Info: Ich neige schon immer dazu, ganz genau dann auf die Toilette zu müssen, wenn gerade keine in der Nähe ist und ich unterwegs bin. Oft genug werde ich dafür auch belächelt. Dadurch habe ich schon alle möglichen Varianten von Toiletten in aller Herren Länder gesehen – angefangen von einem Loch im Boden mit Bretterverschlag drum herum bis hin zu Waschbecken mit vergoldeten Wasserhähnen (z.B. in Dubai). In einigen Städten, die ich regelmäßig besuche, kenne ich inzwischen ein paar Geheimtipps, um mich erleichtern zu können.
In einem unserer Bekannten hatte ich endlich einen Ausflugspartner gefunden, der dieses Problem ernst nahm, da er über eine ähnliche Blasenfunktion verfügt. Als wir bei strahlendem Sonnenschein und der dazugehörigen Hitze durch die Stadt bummelten, meldete sich also wie so oft meine Konfirmandenblase. „Puh, also ich könnte jetzt mal in nächster Zeit eine Toilette gebrauchen“, ließ plötzlich jemand aus der Gruppe verlauten.
„Das trifft sich gut, ich muss nämlich auch mal“, sagte ich erfreut. Wir erspähten ein Starbucks in der Nähe, nutzten das WC und bestellten uns jeweils noch eine leckere Kaffeespezialität.
Den Abend ließen wir bei einem Barbecue und Cocktails im Garten ausklingen und nachdem wir schon das ein oder andere Getränk genossen hatten, fiel uns auf, dass die ganze Veranstaltung mit musikalischer Umrahmung noch viel schöner wäre. Da unsere Geschmäcker bzgl. Musik jedoch weit auseinander gingen, griffen wir zum Spaß auf etwas aus unserer Heimat zurück – genauer gesagt, gleich auf was richtig Regionales.
Wir zählten alle möglichen interessanten, lokalen Unterhaltungskünstler auf, bei deren eigenwilligen Namen uns bereits vor Lachen die Tränen kamen, bevor überhaupt ein Ton aus dem Lautsprecher erklang. Überraschenderweise fanden wir tatsächlich einige Videos im Internet.
Lauthals sangen wir mit, während es aus dem Lautsprecher tönte. „Ach wie gut, dass die Nachbarn nur Englisch oder Spanisch sprechen“, meinte meine Mutter belustigt, „die müssen ja denken, wir haben einen Knall!“
Und so saßen wir bei 25 Grad unter dem texanischen Sternenhimmel und ließen lokale Berühmtheiten aus dem Thüringer Wald durch die Nacht schallen.
Leider vergingen die Tage in den USA wie im Flug und so stand der selbige bald wieder vor der Tür. Unser Gastgeber brachte uns früh am Morgen noch zum Flughafen und uns stand wieder ein langer Tag bevor, denn auch dieses Mal mussten wir umsteigen, um nach Mexiko zu gelangen. Am Flughafen angekommen, wurden wir sofort über eine Verspätung unserer Maschine informiert und unsere Weiterreise geriet ins Stocken.
Wir mussten uns am Flughafen noch ein wenig die Zeit vertreiben, bummelten herum und tranken einen Kaffee. Kurz vor der geplanten Abflugzeit, entschloss ich mich dazu, doch noch einmal die Toilette aufzusuchen – besser jetzt, als im Flugzeug, dachte ich mir. Als wir die Toiletten ausfindig gemacht hatten, waren diese jedoch alle besetzt. Gleich daneben befand sich jedoch eine so genannte „Familientoilette“, die der besagten Zielgruppe vorbehalten war. Die Zeit drängte allerdings und wir mussten noch einige Meter bis zum Gate zurücklegen. „Wir sind doch eine Familie“, sagte meine Mutter, „da können wir die ruhig benutzen.“ „Ja, stimmt eigentlich. Das ist doch gerechtfertigt“, erwiderte ich. Außerdem waren weit und breit keine anderen Reisenden zu sehen. Ich wartete also vor der Familientoilette auf meine Mutter und wollte mich danach ebenfalls dort erleichtern. Plötzlich tauchte neben mir ein junger Mann auf, der auf die Freigabe der Herrentoilette wartete und sprach mich an. Wir machten ein wenig Smalltalk auf Englisch, als er mich plötzlich fragte, wie alt denn mein Kind sei. „How old is your child?“, fragte er freundlich. Ich schaute ein wenig verwirrt, bis ich verstand, worauf er hinaus wollte und ihm erklärte, dass ich nicht auf mein Kind wartete, sondern dass meine Mutter die Familientoilette blockierte. Nachdem sie herauskam und auf mich warten musste, unterhielt sie sich ebenfalls mit dem Herrn. Obwohl ich meine Englischkenntnisse ziemlich gut einschätze und diesbezüglich nie Probleme hatte, sind wir natürlich weit entfernt von einem Muttersprachler. Das fiel auch unserem Gesprächspartner auf, der den Akzent allerdings doch ein wenig falsch deutete und interessiert nachfragte, ob wir Mexikaner seien. Lustigerweise waren wir zwar genau dorthin unterwegs, erzählten ihm aber, dass wir aus Deutschland kamen. Wir verabschiedeten uns, wünschten dem Mann alles Gute und gingen zurück zum Gate. Ein paar Minuten später, kam der Herr ebenfalls zum Gate und stieg mit uns in das Flugzeug ein. Tja, man sieht sich immer zweimal im Leben – in diesem Fall allerdings unerwartet schnell.
Nach der Landung in Dallas nahmen wir noch ein Mittagessen ein und flogen anschließend sofort weiter nach Cancún. Als wir dort nach langem Warten endlich aus dem Flughafengebäude traten, kam uns die feucht-heiße Luft wie eine Wand entgegen. „Gell, das Klima ist vom Feinsten?“, fragte meine Mutter, die bereits zehn Jahre zuvor schon einmal in Mexiko gewesen war. „Ich find’s schön“, sagte ich. Wir warteten auf unser Taxi und fuhren zur Unterkunft. Der zweite Teil der Reise war ebenso ereignisreich und schön, wie der erste. Kaum hatte ich all die Eindrücke vom Besuch in den USA verarbeitet, prasselten zahlreiche neue auf mich ein. Ich knipste Unmengen an Fotos von wilden Leguanen, Pelikanen und anderen heimischen Tieren sowie von den traumhaften Landschaften. Mit einem Leihwagen erkundeten wir die Umgebung und besuchten die Ruinen in Tulúm und Cobá, wir fuhren in eine nahe unseres Hotels gelegene Cenote und segelten mit dem Katamaran auf dem Meer.
Zu unserem Hotel gehörten auch einige Restaurants, die man als Gast kostenlos besuchen konnte - unter anderem ein Steakhaus und ein japanisches Restaurant. Wir hatten uns vorgenommen, alles einmal auszuprobieren, beim Gedanken an Sushi und andere Fisch-Spezialitäten war meiner Mutter jedoch nicht ganz wohl. Obwohl ich weder Fleisch noch Fisch esse, bin ich doch sehr aufgeschlossen und liebe Sushi, von dem es ja auch einige sehr leckere vegetarische Varianten gibt. Ich war also sofort damit einverstanden, das japanische Restaurant zu testen und meine Mutter ließ sich uns zu Liebe dazu überreden. Im Restaurant bestellte ich eine Sushi Platte, welche für mich ohne zu Zögern umgehend auch als vegetarische Variante zubereitet wurde. Meine Mutter gab sich mit einem Hähnchengericht zufrieden. Es war jedoch nicht zu übersehen, dass sie dieses lieber mit Currysoße oder in einem Burrito verspeist hätte.
Nachdem wir letztendlich alle satt geworden waren, fuhren wir nach dem Abendessen nach Playa del Carmen, um ein wenig auf der Promenade zu bummeln und die warme Nacht zu genießen. Mitten auf dem Boulevard – als ich gerade gemütlich in ein paar einheimischen Geschäften und Ständen stöberte – wurde meine Mutter unruhig und hielt sich den Bauch. Ein lautes Gluckern war zu vernehmen. „Oh, ich glaube, ich brauch jetzt ganz dringend ein Klo!“, sagte sie, „ich hab euch doch gleich gesagt, dass mir dieses japanische Essen nicht bekommt!“ Guter Rat war teuer, immerhin standen wir mitten in einer mexikanischen Fußgängerzone. Meine Mutter erspähte auf der gegenüberliegenden Seite eine Bäckerei, stürmte hinein, kramte all ihre restlichen Spanischkenntnisse aus dem Volkshochschul-Kurs heraus und durfte glücklicherweise die Toilette benutzen. Nachdem sich das japanische Essen endlich verabschiedet hatte, konnten wir unser Abendprogramm ungestört fortsetzen, da es sich wenigstens nicht um einen Virus, sondern nur um eine einmalige Unverträglichkeit gehandelt hatte. Weder Holger noch ich haben meine Mutter seitdem je wieder in ein japanisches Restaurant oder eine Sushibar hinein bekommen.
Das mexikanische Essen haben wir übrigens alle wunderbar vertragen. Auch die Hitze machte mir zum Glück nichts aus. Die Einheimischen habe ich durchweg als sehr freundliche, herzliche und offene Menschen kennengelernt und auch bei Ausflügen oder unterwegs mit dem Mietwagen habe ich mich zu keiner Zeit unsicher oder ängstlich gefühlt. Der Rückflug fand über Nacht statt und am späten Vormittag MEZ, landeten wir im kalten und regnerischen Frankfurt. Den Jetlag empfand ich schlimmer, als bei der Hinreise. Ich brauchte fast zwei Wochen, um wieder vollständig im Hier und Jetzt an- und mit der Umwelt klarzukommen, was zu diesem Zeitpunkt extrem ungünstig war, da kurz nach unserer Rückreise meine Abschlussprüfung zur Tourismusfachwirtin bei der IHK Dresden anstand, auf die ich fast zwei Jahre lang per Fernstudium hingearbeitet hatte. Glücklicherweise klappte alles und ich zehre noch heute von den schönen Erlebnissen und Erinnerungen des Urlaubs. Meine Postkarten, die ich an Freunde und Familienmitglieder geschrieben hatte, erreichten die Empfänger leider nie. Vielleicht verließen sie noch nicht einmal den Kontinent, wir werden es wahrscheinlich nie erfahren. Immerhin konnte ich mein Repertoire an Toiletten-Anekdoten erweitern und vielleicht schreibe ich irgendwann einmal einen Reiseführer für blasenschwache Touristen.